Zsolt K. Lengyel

Ungarn in den Beziehungsgeschichten des Donau- und Balkanraumes

Wissenschaftliches Schwerpunktthema und methodische Orientierung des UIM

1. Arbeitsfassung, 28. Juni 1999.

  • Vorbemerkung
     

  • 1. Zum Schwerpunktthema: Integrationen und Desintegrationen in, mit und um Ungarn von den Anfängen bis zur Gegenwart
     

  • 2. Zur methodischen Orientierung

Vorbemerkung

Nachfolgende Ausführungen lagen bei der Evaluierung des UIM im Sommer 1999 der vom Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst eingesetzten internationalen Bewertungskommission vor. Sie bilden die konzeptionelle Grundlage für die Empfehlung, das UIM als nichtuniversitäre hungarologische Forschungs- und Beratungseinrichtung fortzuführen und auszubauen.

Die Programmskizze mit geschichtlichem Abriß sowie knappen Erläuterungen zu Methode und möglichen Arbeitsvorhaben wird an dem seit Beginn 2000 konsolidierten UIM laufend ergänzt. Ihr Thema wird im Sommersemester 2000 und im Wintersemester 2000/2001 am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München, Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas, im Rahmen einer Lehrveranstaltung und einer Vortragsreihe behandelt. Ihre Druckfassung ist für einen der nächsten Bände des ,Ungarn-Jahrbuch’ geplant (Zs. K. L, 24. März 2000).

1. Zum Schwerpunktthema: Integrationen und Desintegrationen in, mit und um Ungarn von den Anfängen bis zur Gegenwart

In der ungarischen Historie reihen sich von Anbeginn innere und äußere Integrationen unterschiedlicher Trägerschaft, Ausdrucksformen und Erfolgsgrade aneinander. Das selbst aus unterschiedlichen Sprach- und Stammesgruppen hervorgegangene Volk der Magyaren trat in die europäische Geschichte mit dem Grundmerkmal der Heterogenität seines seit der Landnahme am Ende des 9. Jahrhunderts schrittweise aufgebauten Herrschaftsverbandes ein. Die Herausforderung, rechtlich-soziale und ethnisch-kulturelle Verschiedenartigkeiten in einer steuerbaren und entwicklungsfähigen Einheit zu halten, vermengte sich seit der Begründung der ungarischen Staatlichkeit um 1000 mit der Notwendigkeit, das Königreich auf eine höhere Ebene von Abstimmungen mit westlichen und östlich-südöstlichen Nachbarräumen zu führen.

Ein herausragendes Beispiel aus der weiten Vergangenheit ist hierfür die Übernahme und Einbürgerung der baierisch-deutsch vermittelten westkirchlichen Staatskonzeption zur Zeit des hl. Stephan I., die unter dessen Nachfolgern aus dem Hause der Árpáden zeitweise durch dynastische Bündnisse und Eheverbindungen mit Byzanz und der Kiewer Rus’ eine Konkurrenz erhielt. Mit besonderem Gewicht kommt das Verhältnis zu den Habsburgern vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Betracht, das nach dem Aussterben der Árpáden und der Periode von einheimischen und auswärtigen Wahldynastien eine Staatsgemeinschaft unter Führung eines auswärtigen Herrscherhauses begründete. In der inneren Dimension der Eingliederungen ist unter anderem die Dualität zwischen Königtum und Adel beachtenswert, die sich in der ständisch geprägten Epoche im Wechselspiel von zentralisierenden und komitatsautonomistischen Tendenzen und Bewegungen niederschlug und durch die Unionen der siebenbürgischen Stände ein regionales Kolorit erhielt. Weitere Fälle staatsorganisatorischer Einbindungsfähigkeit sind bezeugt infolge der Einsetzung der Ämter des Banus in Kroatien und Slawonien sowie des Woiwoden in Siebenbürgen, die vom 12. Jahrhundert an die Beziehungen zwischen dem Zentrum der ungarischen Königsmacht und den südlichen und östlichen Randgebieten des Reiches mit institutionalisierten.

Zwei epochenübergreifende Umstände bieten den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen der Ungarnkunde einen besonderen Anreiz, in diesen Themenbereich vorzustoßen. Zum einen waren die Angleichungen in ihrem Konsensgehalt häufig an Bedingungen geknüpft. Sie beruhten auf dem Wunsch der Kontaktträger, von der jeweils anderen Seite Hilfestellungen für die eigene Entwicklung zu erhalten und dafür notfalls sich selbst einzuschränken. Dieser Zug des Kompromißhaften war in den habsburgisch-ungarischen Beziehungen während jener Perioden greifbar, in denen zwei Kernbestimmungen der Pragmatischen Sanktion von 1722/1723 mehr oder minder auch praktisch miteinander harmonisierten: das Prinzip der Unteilbarkeit der Gesamtmonarchie und dasjenige der Selbständigkeit der Länder der heiligen Stephanskrone innerhalb des Habsburgerreiches. Auf der darunter liegenden Integrationsebene verfügten beispielsweise die Siebenbürger Sachsen über rechtliche, sozialökonomische und ethnische Selbstverwaltungsbefugnisse, die ihnen der ungarische König im Mittelalter für die Wahrnehmung von Grenzwächterfunktionen zugesichert hatte.

Zum anderen ist als forschungsleitender Aspekt überliefert, daß die Konsensbereitschaft nicht selten zugleich Wurzel von neuen Konflikten war. Solches geschah, wenn der eine Kompromiß die Chancen eines anderen Kompromisses verminderte, bisweilen zunichte machte, oder wenn gegenseitige Zugeständnisse von den Beteiligten zu hohe Opfer verlangten und deshalb von diesen früher oder später als nicht mehr tragbar empfunden und aufgekündigt wurden. Zu diesen beiden Fällen liefern die Türkenzeit und die ständische Periode der Habsburgerepoche gutes Anschauungsmaterial.

Nach der verlorenen Schlacht bei Mohács 1526 und der darauffolgenden Einverleibung Mittelungarns in das Osmanische Reich rettete sich zwar die ungarische Staatlichkeit in das nordwestliche, habsburgisch geführte »königliche Ungarn«, und im Karpatenbogen genoß das von der Hohen Pforte tributpflichtige Fürstentum Siebenbürgen eine verhältnismäßige Eigenständigkeit. Doch während der anderthalb Jahrhunderte dauernden Dreiteilung des ungarischen Königreiches verschärfte die gegenreformatorische und zunehmend absolutistische Zentralisierung unter Habsburg die Machtdualität zwischen Königsmacht und Ständen zu einem Gegensatz, in dem die adligen nichtkatholischen Verfechter der politischen Selbstbestimmung nunmehr auch für nationale und religiöse Freiheit stritten. Vor dem Hintergrund dieses neuen Optionsfeldes wuchs das protestantische Siebenbürgen zum Hüter einer ungarischen Gesamtstaatsidee heran, die sich aus der Gegnerschaft zum katholischen Wiener Hof nährte. Der Status Quo zwischen der westlichen und östlichen Vormacht in der Form einer Aufteilung der Machtbereiche im Karpatenraum wirkte einer habsburgisch-ungarischen Verständigung entgegen, weil er den katholischen Westen und den überwiegend calvinistischen Osten in kultureller Atmosphäre und politischer Mentalität auseinanderentwickeln ließ.

Die im 16.-17. Jahrhundert erstarkende antihabsburgische und vornationale Einheitsgesinnung ungarischer Führungsschichten durchlief im nachfolgenden Zeitalter eine Wandlung hin zu einer Abwehrhaltung vor allem des mittleren und niederen Adels gegenüber Wiens Vorherrschafts- und – zeitweilig energischen – Vereinheitlichungsbestrebungen. Andererseits floß sie in den »Hungarus-Patriotismus« ein, der – als territorial begrenzter Abdruck des gesamtmonarchischen Gedankens – alle Bevölkerungsgruppen Ungarns mit ihren ethnisch-kulturellen Sondermerkmalen der »natio Hungarica« zurechnete, somit seinerseits ordnungspolitische Absichten verfolgte. Die Idee der politischen ungarischen Nation und diejenige des habsburgischen Gesamtreiches verlangten von Nichtmagyaren und Magyaren jeweils die Absage an eine vollkommene Verselbständigung und – einander ergänzend – von der höchsten staatlichen Ebene den Verzicht auf eine ausschließliche Führungsrolle. Die Voraussetzungen, diesen Preis weiterhin allseitig zu zahlen, entfielen, als 1849 der Zwist Pest-Budas und Wiens um die Auslegung der Pragmatischen Sanktion die Nationalitäten auf die Seite der Dynastie zog und im Krieg zwischen den beiden einstigen Partnerstaaten mündete; die Niederlage der Honvédarmee gegen die österreichisch-russische Übermacht versetzte das Königreich Ungarn für ein Jahrzehnt in den Zustand »verlorener Souveränität«.

Der Übergang in die Epoche der bürgerlichen Umgestaltung zur Mitte des 19. Jahrhundert und – ein dreiviertel Jahrhundert später – in diejenige der »modernen« Nationalstaaten brachte in den Kontaktsystemen Ungarns eine auf längere Sicht tiefgreifende Wende. Waren vormals die oben auswahlweise angeführten konsens- und konfliktstiftenden Kompromisse allesamt ausgesprochen oder sinngemäß in der föderativen Vorstellung vom übernationalen Staat angelegt, so stieg nun die Ideologie der zentralen Vereinigung von Menschen gleicher Sprache und Kultur in ein und demselben Gemeinwesen zum obersten Prinzip politisch-rechtlicher Ordnungsvorhaben auf. Allerdings vollzog Ungarn diesen Paradigmenwechsel gleichsam nur zur Hälfte: Aufgrund des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 über die Angelegenheiten des Äußeren, der Finanzen und des Heeres mit Österreich verbunden, vertrat es eine realunionistische und nationsübergreifende Großstaatlichkeit, während es als Königreich mit eigener Regierung und Gesetzgebung die aus dem Vormärz überlieferte Hungarus-Konzeption in verbürgerlichter Form durchzusetzen trachtete, mithin dem Postulat eines ethnisch-kulturell gemischtbevölkerten und der ungarischen Suprematie anvertrauten Einheitsstaates folgte. Die beiden Zentren des Reiches setzten den föderativen Lösungsansatz, den sie untereinander praktizierten, in ihren jeweiligen Machtbereichen auf unterschiedliche Weise um: Wien ließ in Cisleithanien länderautonomistische Freiräume zu, Budapest aber zentralisierte Wirtschaft und Kultur, dies in Abkehr von der bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition örtlicher Selbstverwaltungen. Damit beschwor es die Gegnerschaft der Nationalitäten herauf, die über gewährte Individualrechte hinaus zunehmend regional umgrenzte Gruppenbefugnisse anstrebten. Das Integrationssystem des Dualismus, das mit Ausgleichsabkommen zwischen Ungarn und Kroatien, sowie in Mähren und der Bukowina der Gefahr zentrifugaler Tendenzen auszuweichen suchte, war auf Dauer der Sprengkraft der slawischen und rumänischen Nationalitätenbewegungen nicht gewachsen. Deren diplomatische und schließlich militärische Unterstützung durch die westlichen Großmächte war in entscheidendem Maße von der Überlegung motiviert, auf den Trümmern der Doppelmonarchie neue Staaten als Verbündete gegen den deutschen Militarismus und den sowjetischen Bolschewismus hervorzubringen.

Mit der völkerrechtlichen Einrichtung des kleinstaatlichen Modells am Ende des Ersten Weltkriegs wuchs das 1918-1920 aufgeteilte Ungarn in eine grundlegend neue und bis heute im wesentlichen unveränderte beziehungsgeschichtliche Rolle hinein. Abgesehen von den Phasen der Gebietsrückgliederungen im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, weist seine Bevölkerung seither eine vormals nie gekannte Einheitlichkeit nach Muttersprache und Nationalität auf. Mit der inneren Homogenisierung ging die Ausgliederung zahlenmäßig bedeutender und traditionsreicher ungarischer Siedlungsgruppen aus seinem Hoheitsgebiet einher. Diese demographische Umstrukturierung erklärt zwei wichtige Kennzeichen der regionalen Integrationsinteressen Ungarns.

Es handelt sich einerseits um äußere, formelle oder informelle Bündnisse gegen die Aufrechterhaltung oder für die Reformierung des Nationalstaatssystems, andererseits um die Ergänzung des von Budapest staatenübergreifend bemühten Annäherungsmechanismus mit grenzüberschreitenden ungarisch-ungarischen Kontaktbahnen. Auf die ursprünglich friedliche, zuletzt aber gewaltsame Revisionspolitik an der Seite des Dritten Reiches folgte die zwangsweise Einfügung in den sowjetischen Hegemonialblock, in dem die nationale Problematik der internationalistisch-sozialistischen Brüderlichkeit untergeordnet war. Seit 1990 ist die unabhängige, west- und erneut betont deutschorientierte Außenpolitik Budapests erstmals in diesem Jahrhundert grundsätzlich und kontinuierlich in demokratisch-pluralistische Vorgaben eingebettet. Sie zielt unter dem Stichwort »Durchlässigkeit der Staatsgrenzen« nicht auf territoriale Umwälzungen, sondern auf eine angemessene Einschränkung zentralistischer Omnipotenz ab. Mit der Perspektive, damit den internationalen Austausch im über- und unterstaatlichen Rahmen zu fördern, hängt das von Budapest seit 1920 mit Unterbrechungen, wechselnden Inhalten und Mitteln verfolgte Doppelziel engstens zusammen, die Regelung der rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten nach internationalen Normen herbeizuführen und zu sichern sowie Kontakte zwischen Magyaren diesseits und jenseits Ungarns lebendig und ausbaufähig zu gestalten.

Mit den Bemühungen der Regierung und nichtgouvernementaler Institutionen, die Folgen der völkerrechtlichen Trennung der einst gesamtstaatsbildenden ungarischen Nation zu überwinden, nimmt das postkommunistische Ungarn an kontinentalen und globalen Abstimmungsprozessen rechts-, wirtschafts-, kultur- und sicherheitspolitischer Natur teil. Ein wissenschaftliches Institut zur Ungarnkunde, zumal eines – wie das UIM – mit Beratungsfunktionen, wird seine Kernkompetenz auf dem Gebiet der Integrations- und Desintegrationsforschung immer auch durch die Analyse jener aktuellen Einflüsse bekunden müssen, die der ungarische Staat auf seinen geopolitischen Raum unter dem Gesichtspunkt europäischer Einigungsbestrebungen ausübt. Ungarn vermittelt Problemlagen und Regelungsmuster aus mehreren ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Anrainerstaaten mit ungarischer Minderheitsbevölkerung, die aus der Sicht der EU und der NATO einesteils unterschiedlichen Kategorien der demokratischen Reife zugehören (Slowakei, Ukraine, Rumänien, Kroatien, Slowenien), andernteils Auslöser von Gewaltkonflikten und Prüfstand von aktuellen Restabilisierungsversuchen sind (Serbien mit der Vojvodina).

In dieser internationalen Reichweite schließt sich der Kreis um Ungarn als traditioneller, freiwilliger oder notgedrungener Akteur von Integrationen und Desintegrationen. Denn sein weiteres Heranwachsen an die EU verlangt von ihm nicht nur Ausgleichswillen in bilateralen Beziehungen, in denen es wiederholt als »Mutterstaat« von Magyaren anderer Staatsbürgerschaft auftritt. Gemessen wird es wohl auch an der Art, wie es seine historischen Erfahrungen im Umgang mit der »Einheit in der Vielfalt« auf die Gegenwart überträgt – letztlich an seiner Entschlossenheit, sich von der verhältnismäßig homogenen Nationalitätenstruktur seiner Bevölkerung nicht beirren zu lassen, Initiativen gegen Ethnozentrismen nicht nur außerhalb seiner Grenzen zu ergreifen. Ungarn steht auch als »Heimatstaat« von Bürgern nichtungarischer Herkunft in der Verantwortung.

2. Zur methodischen Orientierung

Die beiden Leitfragen des angestrebten beziehungsgeschichtlichen Programms des UIM beziehen sich auf Integrationen und Desintegrationen. Zu einer solchen Profilbildung empfehlen sich interdisziplinäre, komparatistische und strukturorientierte Vorgehensweisen:

– Neben der Geschichtswissenschaft (mit Hilfswissenschaften und historiographisch ausgerichteten Nachbardisziplinen) sowie der Politologie wird die Einbindung der Wirtschafts-, Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaft sowie der Ethnographie angestrebt. Großer Wert wird auf die Erörterung und Erprobung von Möglichkeiten gelegt, aus fachbereichsspezifischen Theorien eine hungarologische Forschungskonzeption zu entwickeln und eine solche ganzheitliche Ungarnkunde ihrerseits in den Forschungs- und Lehrbereich zu Ost-, Mittel- und Südosteuropa einzufügen;

– Das wissenschaftliche Programm des UIM geht über die jeweiligen Grenzen Ungarns als Staat und Nation hinaus und behandelt dabei "Ungarn" und "Magyaren" nicht als alleinige Akteure von Situationen und Entwicklungen. Im Vordergrund stehen die deutsch- bzw. bayerisch-ungarischen, ungarisch-rumänischen und ungarisch-slawischen Beziehungsgeflechte. Die Betonung liegt auf der Herausarbeitung von gegenseitigen Einflüssen, von Analogien und von Unterschieden innerhalb der jeweiligen Verhältnissysteme, also auf der Hierarchisierung der Kontakte nach deren Qualität, nicht nach deren Menge;

– Die einzelnen Projekte wollen nicht Ereignisse nacherzählen, sondern Strukturen in ihrer epochenübergreifenden Dynamik erklären. Sie beschränken sich nicht auf den nationalen Gesichtspunkt in der politischen System- und Verwaltungsgeschichte. Die Aufmerksamkeit gilt immer auch Kontakten zwischen Wirtschaftsräumen, Sozialordnungen sowie Literaturen, Sprachen und Konfessionen, die außerhalb der staatlichen Sphäre stattfanden.